Ich bin ein Innengebirgler. Aufgewachsen zwischen Salzburger Bergen, die so nah waren, dass ich ständig fürchtete, ich würde mit der Nase daran anstoßen. Und so mächtig, dass sie Freiheitsgefühle erstickten und Beengung verursachten. Sie sehen: Ich bin nicht wie die meisten Gebirgler, die nicht genug davon bekommen können, im Sommer zu wandern und im Winter die Berge runterzuwedeln.
Bis 18 trug ich so oft diese nervig engen Skischuhe, dass ich beschloss: Es war genug für ein ganzes Leben. Natürlich kenne ich das atemberaubende Gefühl, wenn man auf einem der Gipfel steht. Natürlich die unfassbare Freiheit, die eine Tiefschneepiste bereithält. Dennoch zieht es mich schon lang weniger in die Berge denn in den Dschungel - ja, auch den echten, aber besonders den der Großstädte.
Seit zwei Jahren lebe ich in Wien. Zwei Millionen Einwohner. Großstadtgetümmel, gepaart mit eigentümlicher Schrebergarten-Romantik. Statt auf Berge zu kraxeln, erklimme ich Lofts von Wiener Hochhäusern, um Cocktails zu trinken oder bei sagenhaftem Blick über Wien zu frühstücken. Statt über Skipisten zu wedeln, kurve ich durch die meist prall gefüllten Innenstadtstraßen, in ein einmaliges Biotop von Internationalität, zahllosen Kulturen und bitterbösem Wiener Schmäh. Und statt in den Wäldern die Einsamkeit zu suchen, tauche ich vergnügt in die anonyme Masse ein - gern auch in die Unterwelt der Hauptstadt.
Die U-Bahn ist nicht nur ein wunderbares Transportsystem, sie lässt auch tief in die Seele dieser Stadt und ihrer Bewohner blicken - köstliche Episoden inklusive. Wie traurig sei der Zustand dieser Gesellschaft, sagt der U-Bahn-Fahrer, als er alle Mitfahrenden rüffelt, weil einer im Rollstuhl sitzenden Frau beim Einsteigen niemand geholfen hat. Im Sommer, der in Wien einige Grad wärmer ist als in Salzburg, ist die Hitze ein Dauerthema. "Wir stehen schon ewig und ich halt das nicht mehr aus. Zu viele Menschen und es stinkt so", plärrt eine ältere Dame in der U3 in ihr Handy. Ein Straßenbahnfahrer umkurvt anderntags die stotternde Klimaanlage elegant: "Von Frühling über Sommer bis Herbst haben wir heute alles dabei. Wir wünschen Ihnen eine gute Fahrt!" In der U6 dagegen redet der Fahrer angesichts von Verzögerungen nicht um den heißen Brei herum. "Ich sag's euch, wie es ist: Die ganze Linie ist im Oasch." Ein kleiner Tipp an dieser Stelle: Die Wiener Alltagspoeten bieten digital zahllose Schmankerl.
So erfrischend die Lenkerinnen und Lenker der Öffis sind: In den Zügen macht sich oft Ernüchterung breit, so bunt, schrill und schräg die Vögel auch sein mögen, die sich darin befinden. Die meisten starren auf ihr kleines viereckiges Handsprechgerät, wischen und wischen und reden zwischendurch so laut damit, als müssten es alle im Zug hören. Begrüßt man sein Gegenüber aber oder spricht es gar an, gelingt selten ein Gespräch. "Wie spät hamma's eigentlich?", fragt die Frau neben mir. "Neun", antworte ich, worauf sie erwidert: "Eigentlich hab ich mit mir selbst gesprochen." Immerhin wechselt sie daraufhin nicht die Sitzbank, denn auch das passiert. Wer im Zeitalter des Wischens - unglaublich - noch reden mag, kann doch nur Böses im Schilde führen.
Auf die Gefahr hin, dass manche jetzt denken: Was für eine arme Seele, wenn ihn so was unterhält, während er seine Berge und die Heimat schmäht. Machen Sie sich keine Sorgen. Unter der Erde lässt Wien tief blicken, darüber ist es ein ständig sprudelnder Quell von Vielfalt, Abwechslung und Freiheit. Auf der Donauinsel imitiert Wien den Meeresstrand, auf den Hügeln der Stadt die alpine Schutzhütte - und zwischendrin tobt pralles Leben.
Wobei ich zugeben muss, wenn ich drüber nachdenke: Im Dschungel gebe ich mich gern und ungefragt als Salzburger aus. Auch diese Schutzhäuser, die als Zuflucht in riesigen Schrebergartensiedlungen dienen, ziehen mich irgendwie magisch an. Mein Liebling ist übrigens das Schutzhaus am Ameisbach im Vierzehnten, wegen des unterhaltsamen Namens und guten Essens.
Auch Wiens höchsten Berg hat der Gebirgler schon erklommen - 544 Höhenmeter, richtig nett und im Dschungel trotzdem irgendwie imposant. Er liegt nahe der Grenze zu Niederösterreich, es ist die mächtigste Erhebung des Kahlengebirges. Ich musste lachen, als meine Begleiter an festes Schuhwerk erinnerten. Der Superberg heißt übrigens Hermannskogel. Quasi nach mir benannt. Wenn das kein Wink des Schicksals ist! Die arme Seele, sie ist noch nicht ganz verloren im Dschungel der Großstadt.