Pünktlich zum vierzigsten Geburtstag bremst mich ein Zungenbrecher aus: periphere Fazialisparese. Eine Gesichtslähmung, die dazu führt, dass mein rechtes Auge nicht mehr schließt und mein Sprechen verwaschen klingt, die Essen und Trinken erschwert, mein Lachen zur Fratze entstellt und den Kopf dröhnen lässt. Der Auslöser? Unbekannt. "Pech", sagt der Neurologe. Einem von fünftausend Menschen pro Jahr passiert das. Einfach so.
"Warten", rät der Arzt, "in den meisten Fällen wird das wieder." "Und in allen anderen Fällen?", frage ich. "Bleiben Sie positiv", antwortet er, "geben Sie am besten mal eine Zeit lang Ruhe."
Ruhe? Wie geht das eigentlich? Yoga machen, Enten füttern oder Bäume umarmen? Ich gehe spazieren. Tag für Tag. Woche für Woche. Ohne Ziel und so weit mich meine Füße tragen. Das Gehen und die Natur entspannen mich, beruhigen meine strapazierten Nerven.
In Bewegung bleiben, Menschen treffen, Kulturen begegnen, meine Neugier befriedigen - alles Gründe, die mich seit meiner Jugend motivieren, hinauszugehen, die Welt zu entdecken. Darum wurde ich Auslandsreporter. Der britische Schriftsteller Bruce Chatwin behauptet, Fortgehen sei des Menschen ureigenster Trieb. Den ewigen Wanderer müsse man sich als glücklichen Menschen vorstellen. Das mag nach romantisierendem Kalenderspruch klingen, doch auch ich spüre das dringende Verlangen, fortzugehen. Jetzt mehr denn je. Vielleicht, um mir Frust und Ärger aus dem Leib zu treten. Um den Stress hinter mir zu lassen. Um zu vergessen. Vielleicht auch, um allein zu sein.
Einfach von zu Hause los, die Türe hinter mir ins Schloss fallen hören und davongehen. Immer weiter, um irgendwann, irgendwo anzukommen. Ich greife zum Handy und tippe in die Suchmaschine "Weitwanderwege". Ein Ergebnis sticht heraus, ist mir fremd: Sultans Trail. Ein Weitwanderweg von Wien nach Istanbul: acht Länder, ein Dutzend Sprachen und Kulturen. 2400 Kilometer quer durch Südosteuropa! Lang genug, denke ich. Anzahl der Personen, die 2022 auf dem Sultansweg unterwegs waren: 45, davon 21 zu Fuß, der Rest auf dem Fahrrad. Viel ruhiger kann es nicht werden.
Drei Monate später, die Gesichtslähmung hat sich mittlerweile wieder beruhigt, starte ich meinen Marsch am Wiener Stephansplatz.
Tag 4: Irgendwo in Österreich
Drei Tage Österreich und ich fühle mich wie nach drei Wochen in der Wildnis. Blase abkleben, Zecken ziehen, Kleidung föhnen, die Augeninfektion versorgen, Rucksack auf die lädierten Schultern hieven - und weiter. Hinter Carnuntum schickt mich meine Navigationsapp in eine Sackgasse: kniehohes, nasses Gras, quietschende Schuhe, die Blase quillt auf. Ich fluche. Drei Nordic-Walking-Damen weichen vor mir zurück, ein Mann läuft mir davon, federleicht. Keuchend hole ich ihn nach vier Kilometern endlich ein: Er ist etwa doppelt so alt wie ich.
Ich will aufgeben, habe das Weitwandern jetzt schon satt, kann nicht einmal mit Pensionisten mithalten! Doch dann drei Männer am Donauufer: Edo, Mustafa, Dragan - Kroate, Bosnier, Serbe. Freunde trotz der Kriege in ihren Heimatländern, die einst eins waren und Jugoslawien hießen. Sie stopfen mich mit Burek voll, gießen Schnaps nach, entzünden ein Lagerfeuer, das Wärme spendet, und sprechen mir Mut zu. Sie lachen, trommeln, reißen mich mit ihrem Optimismus mit. "Von der schönsten (Wien) über die älteste (Plovdiv) in die größte Stadt Europas (Istanbul)", rufen sie. Und ich, eben noch Aufhörer, stimme mit ein, werde plötzlich wieder Wanderer.
An der slowakischen Grenze atme ich den Osten. Heute ist der Eiserne Vorhang nichts als Gras, Wald, Fluss. Ein Schritt, und ich bin drüben. Weiter durchs Donau-Dickicht, über Wurzeln und unter Ästen, bis ein Schild auftaucht: "Vom Atlantik zum Bosporus". Ich habe Bratislava erreicht und grinse. 40.000 Schritte waren es heute. Wie viele es wohl noch werden? Es geht jedenfalls weiter. Weil's sonst keine Geschichte wäre.
Tag 24: Irgendwo in Ungarn
Der Wecker klingelt. Fünf Uhr. Raus in den Morgennebel, die Sonne im Rücken, den Osten voraus. Rehe, Hasen. Idylle. Ein Tag nur für mich - und gleich mein erstes Schlachtfeld: ein morastiges Waldstück mit Löchern im Boden. Ich versinke, verliere die Schuhe, fluche, befreie mich, stapfe weiter. Socken klatschnass, Dornen, Gelsen, Spinnweben auf der Haut. Ein falscher Tritt - Knöchel knickt. Schock. Ein Sturz, eine ernsthafte Verletzung könnte alles beenden. Humpelnd weiter, der Weg blockiert: Gitter, Bahntrasse, Elektrozaun. Ich klettere drüber, schramme durchs Gestrüpp, sehe aus wie ein Kaktus.
Kilometer um Kilometer ein Kampf: gegen den Weg, gegen das Wetter, gegen den Kopf. Felder und Sonne, nirgendwo Schatten. Erst am Horizont Bewegung: Fünf Burschen in einem Weizenfeld, reißen den überstehenden Pflanzen die Köpfe ab. "Woher?" - "Wien." - "Wohin?" - "Istanbul." - "Warum?" Keine Antwort. Sie blicken auf meine zerlumpten Klamotten. "Shopping?", ruft einer, und sie lachen. Ich lache mit - aber die Frage bohrt nach. Warum das alles noch mal? Ach ja, des Gehens wegen, um zur Ruhe zu kommen, den Boden unter den Sohlen zu spüren. Deshalb bin ich hier. Nicht einer von Abertausenden Spinnern, hier bin ich der Spinner. Oft fühle ich mich sogar, als wäre ich der erste Mensch, der dieser Route folgt. Ebendieses Gefühl von Pionierarbeit macht den Sultansweg für mich attraktiv, auch wenn mich das Gestrüpp unterwegs regelmäßig zur Weißglut bringt.
Tag 44: Irgendwo in Serbien
27 Kilometer vor Belgrad nimmt mein Tag eine unerwartete Wendung. Kaum habe ich die Unterkunft verlassen, stürzen zwei Streuner auf mich zu. Ein schmerzhafter Biss und schon bluten 13 kleine Wunden in meiner Wade vor sich hin. Keine tiefe Verletzung, aber genug, um mir Sorgen zu machen. Tollwut? Zum Glück geimpft. Tetanusimpfung? Habe ich vergessen.
Bis Zemun, einem Vorort der serbischen Hauptstadt, schleppe ich mich, um Hilfe zu suchen. Das Bein schmerzt, der Weg ist lang und die Großstadt um mich herum wirkt rau: verfallene Häuser, Müll, endlose Straßen mit Fabriken und lautem Verkehr. Ich passiere das serbische Parlament, überquere die Save-Brücke. Ich wandere weiter durch die Stadt, vierte Klinik, vierter Anlauf. Und endlich: Dr. Jovanović empfängt mich mit einem mürrischen "Scheiß Nazis" - eine unerwartete politische Lektion über den Zweiten Weltkrieg folgt, bevor er mir für 90 Euro die Wunde versorgt und zwei Tetanusspritzen gibt. Antibiotika obendrauf.
Erschöpft, hungrig und durstig, stolpere ich durch Belgrad. Trotz allem habe ich es geschafft: 1000 Kilometer von Wien bis hierher. Und gerade als ich nachdenke, wie hart erkämpft dieses Etappenziel war, platscht etwas auf meine Schulter. Ich blicke nach oben. Eine Taube sitzt auf der Stromleitung und tut so, als wäre nichts passiert.
Tag 76: Irgendwo in Bulgarien
Die Tage gleichen einander: verlassene Dörfer, Wildwestlandschaften, brennende Sonne über Feldern, Hügeln und Wäldern. Pferdefuhrwerke, Apfelverkäufer, Motels, die keine sind - und ich ihr einziger Gast. Zentralbulgarien im Hochsommer ist eine Dystopie.
Ein Ziegenhirte bleibt stehen. Seine mutigste Ziege beschnuppert mich, während die anderen Staub fressen. "Wohin?" - "Istanbul." Er schüttelt den Kopf. Wir lachen, umarmen uns wie Brüder. Ich marschiere weiter.
In Plovdiv schmilzt der Asphalt. Ich blicke auf die Dzhumaya-Moschee, das römische Theater, die thrakische Festung. 8000 Jahre Geschichte, ein Freiluftmuseum. Die älteste Stadt Europas. Der Muezzin ruft, Plovdiv liegt still - der Hitze geschuldet. Ich stehe da, Tränen auf der Wange. Noch 800 Kilometer bis Istanbul.
INFORMATION:
Das Buch "Das ist kein Spaziergang" von Martin Zinggl - Ethnologe, Reporter, Fotograf und Filmemacher - ist im Juni im Knesebeck-Verlag erschienen, 288 Seiten, ISBN 978-3-95728-857-8.