Die ersten Salzburger Festspiele nach dem Zweiten Weltkrieg seien kein Aufbruch in eine neue Freiheit und eine neue Moderne gewesen, sondern ein "Rückbruch" - zu Hugo von Hofmannsthal sowie zu Wolfgang Amadé Mozart. Darauf verwies der Historiker Oliver Rathkolb am Montag bei den ersten von drei Salzburger Festspiel-Dialogen in der Großen Aula. Neben Hofmannsthals "Der Tor und der Tod" wurde im August 1945 zur - so Oliver Rathkolb - "Entgermanisierung Mozarts" dessen "Entführung aus dem Serail" gespielt, zwar in einer Ausstattung aus 1939, doch neu inszeniert von Herbert Waniek, einem Schüler Max Reinhardts. In Konzerten seien primär Werke der österreichischen "Nationalkomponisten" Wolfgang Amadé Mozart, Franz Schubert und Ludwig van Beethoven aufgeführt worden.
Dieser abrupte und somit offenbar dringliche Wechsel von "deutschen Festspielen" während der NS-Zeit seit 1938 zur österreichischen Kulturveranstaltung gilt als Beispiel für das Thema des Symposiums: "Die Salzburger Festspiele und ihr Beitrag zur Identitätsfindung Österreichs". Allerdings stellte Oliver Rathkolb auch fest: Diese ersten Salzburger Festspiele schon drei Monate nach Kriegsende seien "ein Zufallsprodukt" und "ein ungeplanter Wiederbeginn" gewesen.
Sie entstanden teils wegen des Drucks der Kulturpolitik in Wien, wo die sowjetischen Besatzer Theater, Konzerthäuser und Kinos öffneten. So erinnerte die frühere Präsidentin der Salzburger Festspiele, Helga Rabl-Stadler, daran, dass die Wiener Philharmoniker am 27. April 1945 ihr erstes Nachkriegskonzert in Wien gegeben hätten.
Und die Salzburger Festspiele seien in einer "provisorischen Partnerschaft" von Salzburger Akteuren, nach Salzburg Geflüchteten und US-Besatzern möglich geworden, schilderte Oliver Rathkolb. Die Amerikaner hätten für Logistik, Geld und Lebensmittelrationen gesorgt, Impulsgeber seien der frühere Festspielpräsident Heinrich Puthon und der Tenor Otto de Pasetti gewesen, das Programm hätten die beiden Salzburger Bernhard Paumgartner und Joseph Messner gestaltet, wobei Oliver Rathkolb daran erinnert, dass beide wegen ihrer NS-Verstrickungen "heute kritisch kontextualisiert" würden.
Solche Zwiespältigkeit - NS-Sympathien und Antisemitismus versus künstlerisches Verdienst und Widerstand - weisen viele damalige Künstler und Manager auf. Etwa Heinrich Damisch: Er gründete 1917 die Salzburger Festspielhaus-Gemeinde, ohne die es weder einen "Jedermann" noch sonstige Salzburger Festspiele gegeben hätte, entpuppte sich aber in den 1940er-Jahren als drastischer Antisemit. Oder Herbert von Karajan: Er sei sogar zwei Mal der NSDAP beigetreten, erst in Salzburg, dann in Ulm, berichtete Oliver Rathkolb. In zweiter Ehe habe er Anita Gütermann geheiratet, die nach den NS-Gesetzen "Vierteljüdin" gewesen sei. Eine solche Ehe sei für NSDAP-Mitglieder verboten gewesen, doch Karajan sei dies egal gewesen, "er ist zu ihr gestanden". Biografien wie diese zeigten: "Es ist eine komplexe Geschichte", sagte Oliver Rathkolb. "Wir müssen mit der Ambivalenz leben lernen und dürfen keinen Teil der Geschichte auslöschen."
An solche Ambivalenz und an "komplexe Geschichte" erinnerte die Burgschauspielerin Mavie Hörbiger. Für ihre derzeitige Rolle in Elfriede Jelineks Stück "Burgtheater" habe sie sich ausgiebig mit ihrer eigenen Familie befasst, sagte Mavie Hörbiger. Sie sprach von "Tante Paula", "Onkel Attila" und ihrem Großvater. Die drei sind bekannt als Paula Wessely, deren Ehemann Attila Hörbiger und dessen Bruder Paul Hörbiger. Diese überaus prominenten Schauspieler seien nach dem Krieg "Projektionsflächen österreichischer Identität gewesen". Doch vor dem Krieg seien sie "überzeugte Propagandisten des ,Anschlusses'" Österreichs an Hitlerdeutschland und dann "aufrechte Deutsche" gewesen, sie hätten "die Germanisierung des Kulturbetriebs des Dritten Reichs" unterstützt. Allerdings: Paul Hörbiger sei bespitzelt worden. Weil er jüdischen Kollegen zur Flucht verholfen und für eine Widerstandsgruppe gespendet habe, sei er verhaftet, erst zu Tode und dann zu lebenslanger Lagerhaft verurteilt worden. Sei er also "erst ,Anschluss'-Verfechter, dann Zweifler, dann Widerstandskämpfer" gewesen? Weder die Behauptung noch die Selbstzuschreibung sei gewiss, warnte Mavie Hörbiger.
Die Kulturhistorikerin Aleida Assmann bezeichnete das Jahr 1945 als "tiefsten und wichtigsten Einschnitt des 20. Jahrhunderts", der bis ins 21. Jahrhundert wirke. 1945 markiere ebenso "das Ende des nationalsozialistischen Sklavenreichs mit den vielen Zwangsarbeitern und dem antisemitischen Gewaltregime" wie "eine Neugründung der demokratischen Ordnung", mit der alle bisherigen "Errungenschaften des Rechtsstaates" hätten bestätigt werden müssen. "1945 ist das Gründungsjahr der Welt, in der wir heute leben, die es erneut zu stützen und zu verteidigen gilt." Und die Salzburger Festspiele seien "das große Nachkriegs- und Aufbruchprojekt" gewesen.
Doch der Einschnitt habe nur für das politische System gegolten, aber nicht für die Bevölkerung, sagte Aleida Assmann. Viele politische Sichtweisen aus der NS-Zeit bestanden fort, diese Kontinuität sei vor allem bei Richtern und Ärzten und auch bei Künstlern zu beobachten. Das Schweigen darüber sei erst mit dem Aufschrei 1968 und mit kritischer Auseinandersetzung ab den 1980er-Jahren gebrochen worden.
Salzburger Festspiel-Dialoge:
Teil 2, 1955 - Staatsvertrag und Neutralität, 18. August.
Teil 3, Aufbruch nach Europa, 25. August, jeweils 10-13 Uhr, Große Aula.