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Der Mythos Werwolf

Ein neuer Film befasst sich mit der Legende des Wolfsmenschen. Doch woher stammt die Figur überhaupt?

Im Zuge der Hexenverfolgungen kommt es immer häufiger auch zu Werwolfprozessen.
Im Zuge der Hexenverfolgungen kommt es immer häufiger auch zu Werwolfprozessen.

In Hollywood braucht man für den typischen Werwolf zuerst einmal einen richtig gruselig großen Vollmond, um einen Menschen in eine reißende Bestie zu verwandeln, ganz im Gegensatz zu vielen alten Sagen und Mythen übrigens. Bei den Germanen etwa "geschieht die Verwandlung vorzugsweise durch Wolfshemden, ulfahamir", konstatiert der deutsche Germanist und Werwolfkenner Wilhelm Hertz (1835-1902) in seinem Grundlagenwerk "Der Werwolf".

Mehr noch, sogar eine ungefähre Altersangabe der Erzählung lässt sich dem Fachmann zufolge anhand der Bekleidungsstücke vornehmen. "Noch in unseren Tagen", so schreibt Hertz 1862, "sind Sagen vom Werwolf, besonders im Norden und Osten Deutschlands, lebendig. Die Verwandlung geschieht vorzugsweise durch einen Gürtel, der an die Stelle des alten Wolfshemdes getreten ist."

Während der Gestaltwandel mittels Gürtel also neueren Datums ist, lassen sich die Wolfshemden dem Germanisten Hertz zufolge bis zu den ulfhednar (Wolfsgewandige) genannten Elitekämpfern der Wikingerzeit und darüber hinaus zurückverfolgen, wohl sogar bis zum Schamanentum und den Initiationsriten der grauen Vorzeit. Legt der Werwolf seinen Gürtel oder sein Wolfsgewand ab, dann wird er zumeist augenblicklich wieder zum Menschen. Er "trägt nun also seine Wolfshaut nach innen", wie es in einigen Sagen so schön heißt. Der Zauber lässt sich demnach also keineswegs durch einen Biss auf andere Menschen übertragen, so wie es im Hollywoodkino oft zu sehen ist. Werwölfe verschlingen vielmehr ihre Opfer oder zerfleischen sie, aber sie infizieren sie nicht.

Somit müssen auch jene wissenschaftlichen Erklärungsversuche schon im Ansatz scheitern, die hiesige Werwolfmythen auf die durch Bisse übertragbare Tollwut zurückführen wollen. Diese Virusinfektion kann Tier und Mensch gleichermaßen befallen und in kurzer Zeit zum Tod führen. Selbst heute noch sterben nach WHO-Angaben weltweit Zehntausende Menschen jährlich an dieser oft durch Tierbiss übertragenen Wutkrankheit, wie sie auch genannt wird. Schon kleinste Umweltreize können bei den Erkrankten eine regelrechte Raserei auslösen, von der in alten Sagen durchaus die Rede ist. Allerdings können Werwölfe in vielen alten Geschichten auch sprechen - und gerade das ist Tollwutkranken aufgrund der entstehenden Rachenlähmung praktisch unmöglich. Der Speichel, der sich als Schaum vor dem Mund des Infizierten sammelt, wird in Sagen und Mythen nicht erwähnt. Ebenso kann eine Rückverwandlung im Gegensatz zu den Werwolfüberlieferungen nicht mehr stattfinden, da Mensch und Tier in früheren Zeiten, ohne die moderne medizinische Versorgung, dem sicheren Tod geweiht waren. Es gibt aber auch andere Wege, die aus einem Menschen einen Wolf machen können. Mediziner kennen die Hypertrichose, eine übermäßige Körperbehaarung, mit Ausnahme der Handinnenflächen und Fußsohlen. In früheren Zeiten wurden diese Wolfsmenschen oder auch Haarmenschen auf den Jahrmärkten als Kuriositäten dem staunenden Publikum präsentiert.

Ebenfalls selten ist die Lykanthropie. Dabei bilden sich die Erkrankten ein, ein Tier zu sein - auch ein Wolf. Es ist also möglich, dass einige Geschichten über Werwölfe auf Fälle von Hypertrichose oder Lykanthropie zurückzuführen sind, ebenso wie auf einzelne Ausgestoßene, Ausgesetzte, entflohene Mörder, Sadisten, Vogelfreie und andere zwielichtige Gestalten, die sich früher in den Wäldern herumdrückten, sicher ausschließen kann man selbst die Tollwut nicht.

Dennoch ist eine andere Erklärung für die überwiegende Mehrheit der Sagen und Mythen wahrscheinlicher, wie sich die Mehrheit der Experten sicher ist: echte Wölfe und eine gehörige Portion Aberglaube. Bekannt geworden ist unter anderem die Bestie vom Gévaudan in Frankreich, der in der Zeit von 1764 bis 1767 über 100 Opfer zugerechnet werden, überwiegend Frauen und Kinder.

Bis heute ist nicht geklärt, wer diese Menschen wirklich getötet hat. Die zahlreichen historischen Zeugnisse berichten von mehreren Jagden auf ein Tier, das Zeitzeugen als eine Art Chimäre, also ein Zwitterwesen, von Wolf und Hund beschreiben. Auf Befehl König Ludwig XV. wird schließlich ein großer Wolf getötet und der Fall damit zu den Akten gelegt. Allerdings gibt es nachweislich auch später noch weitere Opfer.

Je mehr der Mensch im Mittelalter in die angestammten Lebensräume der Wölfe eindringt, sich niederlässt und dort Ackerbau und Viehzucht betreibt, desto häufiger kommt es zwangsläufig zu Auseinandersetzungen mit den dort lebenden Wölfen. Über Jahrhunderte hinweg wird der Wolf als ernste Bedrohung für das Vieh, ja die eigene Existenz angesehen und bis zur Ausrottung bejagt.

Vor allem in Zeiten von Hungersnöten, Viehseuchen, Epidemien oder Naturkatastrophen spitzt sich der Konflikt weiter zu. Schuldige werden gesucht und gefunden: Im Zuge der Hexenverfolgungen kommt es immer häufiger auch zu Werwolfprozessen. Der Germanist und Werwolfexperte Wilhelm Hertz erläutert das so: "Mit dem Hexenglauben entstand die Vorstellung von Menschen, die sich mit Hilfe des Satans aus reiner Mordlust zu Wölfen verwandeln."

In einem der bekanntesten Werwolfprozesse der damaligen Zeit werden dem Bauern Peter Stubbe über ein Dutzend Morde zur Last gelegt. Als "Werwolf von Bedburg" wird er am 31. 10. 1589 hingerichtet. Noch heute kennt man im Rheinland den Stüpp als Synonym für den Werwolf an sich. An dem Fall Peter Stubbes lässt sich auch das allmähliche Verblassen der Angst vor den Werwölfen nachzeichnen.

Ursprünglich einmal sehr gefürchtet, taucht er in den Erzählungen des 19. Jahrhunderts nur noch als eine Art dämonischer Quälgeist auf. Im 19. Jahrhundert sind die Menschen wesentlich aufgeklärter und gebildeter, die Hexen- und Werwolfprozesse längst eingestellt und die Wölfe in Mitteleuropa praktisch ausgerottet. Die Angst vor dem Schrecken der Werwölfe macht im Laufe der Zeit mehr und mehr einem wohligen Schauer im Kinosessel Platz.