Achtsamkeit, Anstand, Diskretion, Distanz, Disziplin, Einfühlsamkeit, Respekt: Wenn Suzanne Harf über gute Manieren spricht, gehören diese genderunabhängigen Eigenschaften für sie zum guten Ton - an der Supermarktkassa ebenso wie in der Loge des Großen Festspielhauses. "Die Zeiten ändern sich", sagt die gebürtige Luxemburgerin, die als Gesangsstudentin nach Salzburg gekommen ist. Quer durch die Generationen nimmt sie ein raueres Verhalten wahr, "massiv seit der Pandemie". Zeitgeist?
Etikette fördert zwischenmenschliches Verständnis
Eine Erklärung hat sie nicht für ihre Beobachtungen, stellt jedoch fest: "Viele Menschen achten nicht mehr aufeinander. In der Schlange stehen und geduldig warten zu können ist nicht mehr selbstverständlich. Etikette versteht man oft falsch und denkt, sie bedeute, man solle 'Knigge' auswendig können. Dabei geht es um die Grundformen eines guten Miteinanders aller Menschen und nicht darum, ob man bei Tisch den kleinen Finger abspreizt oder nicht."
Suzanne Harf erlebt Festspielevolution
Acht Intendanten und vier Präsidenten beziehungsweise Präsidentinnen hat Suzanne Harf in der und um die Hofstallgasse bereits erlebt. "Es war Gérard Mortier, der meinen Job für die Salzburger Festspiele kreierte. Ich habe dann zusätzlich zum Sponsoring, welches ich unter ihm für die Festspiele aufbaute, auch das Protokollbüro geführt." Inzwischen ist es ihr 38. Jahr bei der weltbekannten Kulturinstitution. An die Zeit mit dem 2014 verstorbenen Mortier erinnert sie sich bis heute gern: "Er hatte tolle Umgangsformen. Nach außen hin konnte er provokant auftreten, was ich verstehe, denn er war berufen worden, die Festspiele ins 21. Jahrhundert zu bringen. Er war sehr höflich und hat mich immer gesiezt, was die Arbeit angenehm gemacht hat. Und er war immer fein angezogen. Ein einziges Mal habe ich ihn im Pololeibchen gesehen und war … überrascht."
"Trashy Look": Warum Bequemlichkeit nicht immer angebracht ist
Apropos Kleidung: Den "trashy Look", wie Harf es bezeichnet, wenn Leute in Jogginghosen "eh nur" ins Café oder ins Kino gehen, versteht sie nicht. "Selbstverständlich ändert sich die Mode und ich nehme einen starken Hang zur Bequemlichkeit wahr. Ich bin tolerant und neugierig, doch alles gefällt mir nicht. Statt schlabberiger Hosen, die man schon in der Früh daheim anhatte, kann man sich für draußen ja etwas besser Passendes, Unkompliziertes anziehen. Das gilt auch für den Konzertbesuch." Vor einiger Zeit ist Suzanne Harf bei einem Klavierabend im Festspielhaus gesessen, als ein Touristenpaar neben ihr Platz genommen hat. Kurze Hosen, Wandersandalen, Rucksäckchen auf den Knien, so, als wären sie eben noch auf dem Campingplatz gewesen. "Das finde ich schade. Diese Menschen geben einiges Geld für ihre Karte aus. Da könnte man das bunte Freizeitgewand gegen etwas Angemesseneres tauschen", sagt sie.
Passende Kleidung bei den Salzburger Festspielen
Auf etwas weniger passende Kleidung werden Besucherinnen und Besucher bei den Salzburger Festspielen nicht angesprochen. "Sie sollen Konzert und Oper trotzdem genießen." Warum Suzanne Harf sich dem Anlass entsprechendes Gewand wünscht? "Weil bei uns alles so wunderbar ist. Ich organisiere, dass unsere Häuser den schönsten Blumenschmuck bekommen, und unser Reinigungstrupp poliert jeden Winkel." Wenn Veranstaltungen stattfinden, lautet das Motto für Harf: "Jedermann erwartet sich ein Fest" - und genauso dürfen sich die Gäste im Rahmen ihrer Möglichkeiten und ihres Geschmacks kleiden. Für einen Skandal reicht es nicht, wenn jemand ungebührlich gekleidet ist. "Ein Skandal wäre es, wenn jemand mit nacktem Körper kommt oder extreme politische Parolen im Publikum ruft."
Von Tischmanieren und Krawatten
Im Alltag ist Etikette in der Business-Welt nach wie vor wichtig, ebenso wie Tischmanieren. "Ein gewisses Verhalten bei Tisch hat mit Hygiene zu tun, außerdem mit Appetitlichkeit. Wenn alle sauber essen und die Serviette am Schoß haben, ist das eine gute Basis. Wer öfter geschäftlich speist, sollte zumindest ein paar Feinheiten beherrschen und auch einen Fisch mit Gräten essen können", sagt Suzanne Harf. Starren, antiquierten Regeln im Alltag trauert sie nicht hinterher. Auf eine Höflichkeitsform, nämlich das Siezen, möchte sie allerdings nicht verzichten. Harf findet es nicht passend, wenn sich alle duzen, und siezt ihr Team. Nicht um Distanz zu schaffen, sondern um den Menschen um sie herum Respekt zu zollen, betont sie.
Dass es eine Kleiderordnung nur mehr in manchen Branchen gebe - "etwa in Anwaltskanzleien oder bei Ärzten, von denen ich mir auf jeden Fall hygienische Kleidung erwarte" -, sei in Ordnung. Männer sähen heute auch ohne Krawatten okay aus, vorausgesetzt, der Rest des Outfits stimme.
"Wenn ich gefragt werde, was angemessen ist, dann ist es für mich schlimmer, overdressed zu sein als underdressed", betont Harf und berichtet von einer wichtigen Persönlichkeit, die mit Partnerin zu einer Matinee in Smoking und langem Kleid gekommen war. "Da habe ich mich sehr unwohl gefühlt für die beiden, denn sie trugen offensichtlich Abendkleidung. Angesagt gewesen wären Kostüm oder Sommerkleid für die Dame und ein Blazer für den Herrn."
VIP-Besuche bei den Salzburger Festspielen: Ein Blick hinter die Kulissen
Wenn im Juli und August wieder Hochsaison bei den Salzburger Festspielen herrscht, ist Suzanne Harfs protokollarisches Wissen vonnöten. Manche Abläufe sind streng geregelt und es ist strikt festgelegt, wer wann wohin geht und wer als Nächstes folgt.
Festspielpräsidentin und Hausherrin Kristina Hammer steht am Tag der Eröffnung am Eingang, um den Bundespräsidenten bei seinem Eintreffen zu begrüßen, und etwas weiter im Gebäude drinnen, wenn andere Ehrengäste ankommen. "Einmal kam der belgische König Philippe privat zu den Festspielen mit seiner Frau Mathilde und ihren vier Kindern. Während die älteste Tochter in der Kinderoper war, ging es für die übrige Familie am Nachmittag zu 'Aida'. Zuvor habe ich mich intensiv mit dem belgischen Protokoll beschäftigt. Wichtig war, dem König stets den Vortritt zu lassen. Es war ganz schön schwierig, ihn so durch die Gänge des Hauses zu manövrieren, ohne aufdringlich vorneweg zu gehen. Er hat diese Aufmerksamkeit geschätzt", erzählt die Protokollchefin.
Suzanne Harfs Höhepunkte in ihren bisher 38 Festspieljahren? "Der Besuch des Großherzogs Henri von Luxemburg, der des französischen Präsidenten Emmanuel Macron sowie der Privatbesuch des damaligen britischen Prinzen und heutigen Königs Charles", antwortet sie. Gerade bei Charles seien im Vorfeld einige Vorbereitungen notwendig gewesen. So galt es, die Frage zu klären, wo er die Toilette benutzen konnte, ohne zu warten oder jemanden zu treffen. Harf hat sogar herausgefunden, welche Marke der Teesorte Earl Grey der hohe Gast trinkt. An ein kleines Extra erinnert sie sich mit einem Schmunzeln: "Das Teewasser zum Aufgießen hat er selbst mitgebracht."
Wissen aus der Kinderstube
Woher hat Suzanne Harf ihr Wissen um Etikette und Protokoll? Als Erstes nennt sie ihre Eltern, bei denen sie und ihre fünf älteren Geschwister eine gute und liebevolle, wenn auch strenge Erziehung genossen haben. "Erbsen mit dem Messer auf die Gabel zu schieben und sie so zu essen habe ich von meiner älteren Schwester gelernt. Es hat mich genervt, weil die Dinger immer wieder hinuntergekullert sind!" Jede Menge Fachwissen hat sie sich angelesen; zugute kommt ihr die Tatsache, dass sie auf andere Menschen neugierig ist, eine exzellente Beobachterin ist und einen guten Blick dafür hat, wie Dinge im Vorder- und im Hintergrund ablaufen.
Die Erziehung ist es auch, die dem Nachwuchs heute und in Zukunft adäquates Benehmen mit auf den Weg geben soll: Bitte sagen, Danke sagen, grüßen, die richtige Anrede verwenden. Unbedingt nachfragen, wie es dem Gegenüber geht. Harf: "Viele Verhaltensregeln dienen der Orientierung. Ein Handkuss ist längst out, gute Manieren bei Tisch kommen hoffentlich nie aus der Mode." Deshalb sieht es die gebürtige Luxemburgerin auch so gern, wenn Menschen selbst kochen und gemeinsam im Familien- oder Freundeskreis essen. Ihr Rückschluss: "Wer immer nur Fast Food mit den Fingern isst, kann nicht wissen, wohin der Knochen eines Brathuhns nach dem Abnagen gehört. Auch das sollen Kinder von ihren Eltern lernen: das Selbermachen und den Kontakt zur Materie."