"Ärger heißt: Mir ist was über die Leber gelaufen."
Reinhard Pichler
Psychotherapeut
Aggressive Impulse reflektieren und regulieren
Ob Wut und Aggression lebenszugewandt sind oder zerstörerisch, ist oftmals eine Gratwanderung und eine Frage der Intensität: Der eine hat ein dickes Fell, viele aber sind dünnhäutig. "Es ist absolut hilfreich, wenn wir unsere aggressiven Impulse reflektieren und regulieren", sagt Reinhard Pichler. Es beginne mit "dem Ärger oder Grant, wie man in Österreich auch sagt. Es ist einem etwas über die Leber gelaufen." Auslöser können alltägliche Geschehnisse sein, aber es gibt auch eine innere Grundstimmung, in der Groll und Unzufriedenheit herrschen. Unlust, Missbehagen und schlechte Laune (Dysphorie) sind weitverbreitet. Wenn jemand "zwider" ist, hofft man, dass der Zustand wieder vorbeigeht.
Wut als Ausdruck von Narzissmus: Verstehen und Handeln
Zur gesunden Wut gehöre es, etwas bereinigen und klären zu wollen. Pichler: "Jemand hat einen Konflikt mit einer anderen Person. Daraus entsteht das Bedürfnis, die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Man will reden, die Sache klären und sich einig werden." Die Dinge können gleitend oder auch explosiv in negative Formen übergehen: Die Rede ist von Jähzorn, vom "Häferl", das schnell übergeht, von den Zeitgenossen, die leicht "auszucken". Dann kommt es auch zu körperlicher Gewalt und Mord. Oft sagen Menschen danach, es tue ihnen leid und sie hätten nicht gewollt, was sie getan haben. Narzisstisch akzentuierte Partner sagen das in der Regel nicht. "Das ist eine ganz andere Qualität von Wut", so Pichler, "so ein Partner will permanent alles haben, ständig emotional gefüttert werden, hat meist keine gute Eigenwahrnehmung und ist aus geringsten Anlässen gekränkt und wütend. Die narzisstische Wut kann dann auch sadistisch werden oder paranoid."
Der Weg von Liebe zu Hass
Der Königsweg im zwischenmenschlichen Umgang sei die wertschätzende Haltung gegenüber anderen und sich selbst. "Im beruflichen Kontext ist das noch ein bisschen leichter, weil ich mich mehr bemühen muss, kann aber trotzdem schiefgehen." In Paarbeziehungen seien die Grenzen des Erträglichen oft weiter gesteckt, was zu Entfremdung und Trennungen führen könne. Am toxischen Ende mündet die Aggression schließlich in Verachtung, Hass und Vernichtungswut. "Man ist dann verhärtet und verstockt, die Beziehungsebene ist abgebrochen. Es gibt in Folge kein Bedürfnis nach Klärung mehr." Sowohl Individuen (Rosen- und Gerichtskriege unter Eheleuten, Nachbarn oder Erben) als auch ganze Gesellschaften können in diese erstarrten, wahnhaften Haltungen kippen, wie man an den aktuellen Konflikten sehen könne, so Pichler.
Die unterschiedlichen Formen von Wut und Ärger
Wut und Aggression entstehen in dem evolutionär sehr alten "Säugetiergehirn", dem limbischen System. Die Nervenstruktur steuert Antrieb, Emotionen, Gedächtnisleistung und reagiert blitzschnell im Sinne der Lebenserhaltung. Das jüngere Großhirn kann das nur bedingt kontrollieren.
Kommt die Wut scheinbar aus dem Nichts, stecken meist psychische Probleme dahinter. Bei einem Entwicklungstrauma aus der Kindheit erleben Betroffene oft unbewusste Trigger für heftige Wut. Bei einem narzisstisch akzentuierten Menschen ist die Wut oft Leitemotion, die sich wie ein Betäubungsmittel über andere unangenehme Empfindungen legt. Betroffene reagieren auf geringste, häufig nicht nachvollziehbare Auslöser.
Meist leidet das Umfeld unter unangemessener Wut. Wer sich und seinen Liebsten etwas Gutes tun will, übt sich in Selbstreflexion und Selbstregulation der Emotionen und des Nervenkostüms. Auf Höhe der Zeit sind körperorientierte Formen der Persönlichkeitsentwicklung (Atmen, Meditation, Traumatherapie, Yoga).
Läuft die Wut ins Leere, kann sie in Ohnmacht und Erstarrung kippen. So ließ man ganze Generationen im Stil einer totalitären Geisteshaltung nachts schreien und weinen, bis diese in psychoseähnliche Zustände fielen, so Experte Reinhard Pichler: "Der Organismus schaltet dann ab, weil das Kind merkt, es hilft mir niemand, es kommt keiner." Eine moderne Form der Misshandlung sei es, wenn Mütter stundenlang am Handy beschäftigt sind oder ihre Kinder festgebunden im Kinderwagen durch ein Einkaufszentrum schleppen und deren Hilferufe - Quengeln, Strampeln, Weinen, Schreien - ignorieren.