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Psychotherapie: Wenn jemand vorurteilslos zuhört

Sorgen, Ängste, Zweifel, Panikattacken, Zwänge, Depressionen. Wie eine Psychotherapie helfen kann und warum sie nicht "ewig" dauern muss.

In einer Psychotherapie kann alles besprochen werden – ohne jeden Zwang, ohne jede Scham.
In einer Psychotherapie kann alles besprochen werden – ohne jeden Zwang, ohne jede Scham.

Du machst eine Psychotherapie? Brauchst du das wirklich? Im Gegensatz zum "normalen" Arztbesuch wegen eines körperlichen Leidens ist der Gang zu einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten noch immer erklärungsbedürftig. Und wird daher auch nicht so offen kommuniziert. Man will schließlich im Freundeskreis nicht als "Psycherl" verunglimpft werden.

Die Psychotherapeutin Romana Wiesinger eröffnete neben ihrer Tätigkeit in Wien im Jahr 2005 auch eine Praxis in Perchtoldsdorf. Anders als in der Großstadt war in der Landgemeinde die Sorge mancher Klientinnen und Klienten groß, dass jemand sie sehen könnte, wenn sie in die psychotherapeutische Praxis gingen. "Leute aus dem Ort wollten sichergestellt wissen, dass ihre Besuche bei mir total anonym bleiben. Einige sagten, wenn wir uns auf der Straße treffen, könnten wir uns höchstens grüßen, wie das am Land üblich ist. Auf keinen Fall mehr!"


Gegen die Ängste vor einer Psychotherapie

Beinahe zwei Jahrzehnte später ist die Scham, "dass mit mir psychisch etwas nicht in Ordnung ist", nicht mehr so groß. Aber die Hürde, in eine Psychotherapie zu gehen, ist noch immer wesentlich höher als beim "normalen" Arztbesuch - wiewohl heute unbestritten ist, dass körperliche und seelische Leiden zusammenhängen können.

Mit ihrem sehr einfühlsam geschriebenen Buch "Chance Psychotherapie" möchte Romana Wiesinger den Vorbehalten oder Ängsten gegenüber einer Psychotherapie entgegenwirken. "Ich wünsche mir, dass mehr Menschen Körper und Psyche als Einheit sehen."

Die Therapiemethode ist nicht entscheidend

Eine erste Hürde für eine Psychotherapie ist schon die, dass es eine Vielzahl von Richtungen und "Schulen" gibt - von der Personzentrierten Psychotherapie, wie sie Wiesinger vertritt, über die Gestalttherapie und die systemische Familientherapie bis hin zum Psychodrama und der klassischen Psychoanalyse. Die Fachwelt ist sich aber weithin einig, dass nicht die Methode den Ausschlag gibt, sondern die persönliche Beziehung. "Es kommt darauf an, ob es im Erstgespräch passt, ob die Chemie stimmt", betont Wiesinger. "Das ist ganz wichtig für eine erfolgreiche Therapie. Wenn Sie nicht sicher sind, ob Sie sich jener Person, die Ihnen gegenübersitzt, anvertrauen können, sollten Sie einen weiteren Versuch mit jemand anderem unternehmen. Wahrscheinlich wird Ihnen die Persönlichkeit der Therapeutin, des Therapeuten letztlich wichtiger sein als die Richtung. Vertrauen Sie Ihrem Bauchgefühl!"

"Sehen, dass Körper und Psyche eine Einheit sind."
Romana Wiesinger
Therapeutin

Entscheidend für eine therapeutische Sitzung ist nicht, wie ein Therapeut, eine Therapeutin ausgebildet ist, sondern dass er oder sie vorurteilsfrei zuhört. Das ist eine professionelle Fähigkeit, die man im Alltag auch mit der besten Freundin, dem besten Freund nicht voraussetzen kann. Der Begründer des Personzentrierten Ansatzes, Carl Rogers, fasste das so zusammen: "Wenn dir jemand wirklich zuhört, ohne dich zu verurteilen, ohne dass er den Versuch macht, die Verantwortung für dich zu übernehmen oder dich nach seinen Mustern zu formen, dann fühlt sich das verdammt gut an. Jedes Mal, wenn mir zugehört wird und ich verstanden werde, kann ich meine Welt mit neuen Augen sehen und weiterkommen. Es ist erstaunlich, wie scheinbar unlösbare Dinge doch zu bewältigen sind, wenn jemand zuhört."

45 bis 90 Stunden Psychotherapie sind empfehlenswert

Dieses Zuhören kann nach der Erfahrung von Romana Wiesinger zehn bis zwanzig Stunden dauern, wenn der Klient, die Klientin sich dann wesentlich besser fühlt, weil Panikattacken oder ein anderer Leidensdruck deutlich geringer geworden sind. Die Dauer einer Therapie hängt aber auch von der "Vorlaufzeit" ab. "Viele Klientinnen und Klienten schleppen ihre psychischen Probleme oft schon monate- und jahrelang mit sich herum. Dann kann man davon ausgehen, dass es auch länger dauern wird, bis man Sorgen, Ängste, Zweifel, Panikattacken, Zwänge, Depressionen, Essstörungen oder anderes wieder loswerden kann." Ein bis zwei Jahre mit 45 bis 90 Stunden seien dann realistisch.

Ehrlicherweise müsse man auch erwähnen, dass manche therapeutischen Prozesse nach einiger Zeit abgebrochen werden, stellt Wiesinger fest. Im Idealfall gelinge es aber, Störendes in der Therapie zu klären. Die Therapeutin erzählt dazu ein Beispiel: "Eine junge Klientin sprach von einer ,Mauer' zwischen ihr und mir und konnte nicht auf Anhieb sagen, weshalb diese Mauer zwischen uns stand. Gegen Ende der Stunde fragte sie mich, ob ich Du statt Sie zu ihr sagen könnte. Was ich natürlich tat. Als die Stunde zu Ende war, meinte die Klientin: ,Jetzt fühle ich mich viel besser und die Mauer ist auch schon kleiner.' Wir konnten in den folgenden Stunden die gesamte Mauer gut abbauen."

Eine Befürchtung mancher Klientinnen und Klienten ist, dass man in einer Psychotherapie auf unliebsame Fragen antworten müsse oder sie es nicht verkraften würden, "wenn ich einmal anfange zu erzählen und dann viel hochkommt". Die Erfahrung von Romana Wiesinger ist, dass sie diese Angst nehmen könne. "Meist tastet sich ein Körper Schritt für Schritt an heikle Themen heran und gibt so viel ,frei', wie eine Person gut verkraften kann. Wenn Sie der therapeutischen Beziehung vertrauen, werden Sie sehen, dass es Ihnen mit der Zeit immer leichter fällt, in der Therapiestunde auch unangenehmen Gefühlen und Gedanken Raum zu geben."

Alle Zweifel, Ängste und Probleme haben Platz

Die Melodie des Lebens entstehe in einzelnen Tönen, und der Weg zur psychischen Gesundheit entstehe in kleinen Schritten, sagt die erfahrene Therapeutin. Im geschützten Raum der Therapie hätten alle Zweifel, Ängste und Probleme Platz. Nichts werde als verrückt oder dumm bewertet. "Klientinnen und Klienten vertrauen mir oft an, dass sie die genauen Gründe gar nicht richtig verstehen, sich aber nach einigen Therapiestunden in der Regel besser fühlen, die Stimmung besser wird oder sich Symptome lindern."

Ein Beispiel: Ein junger Klient kam mit Ein- und Durchschlafproblemen. Er sagte: "In meinem Kopf ist ein dauerndes Wirrwarr, und zwar immer dann, wenn ich zur Ruhe kommen und schlafen möchte." Er verstand sich selbst nicht. Doch mit der Zeit konnte er seine Gedanken ordnen, fand einerseits Dinge, die er ändern konnte, und andererseits einen besseren Tag-Nacht-Rhythmus, indem er sich ein Ritual zurechtlegte, wieder zu lesen begann, also das Handy gegen ein Buch tauschte, und so mit der Zeit zu einem ruhigen Schlaf kam.

Schritte sind das Annehmen statt Abwehren oder die wertvolle Arbeit mit dem "Kinder-Ich". Aus Vernunft kann Gefühl werden, aus Zweifel Sicherheit, aus Sorge Verständnis, aus Schwarz-Weiß-Denken Vielfalt und aus dem Sich-Kümmern um andere ein Kümmern um sich selbst.

Psychotherapie hilft nicht nur der betreffenden Person

Zur inneren Ruhe finden - wenn das in einer Psychotherapie gelingt, ist neben der betreffenden Person selbst auch deren Mitmenschen geholfen. "Wir dürfen viel mehr selbst entscheiden und uns viel mehr dabei erlauben, wie wir leben möchten, als wir oft meinen", resümiert Wiesinger. "Ich durfte immer wieder erleben, wie sich Menschen in einem Therapieprozess ändern - in eine Richtung, die ihrem eigenen, eigentlichen Original immer mehr entspricht."

Mehr dazu lesen Sie im Buch "Chance Psychotherapie. Wie es wirkt und was sie bringt." von Romana Wiesinger.