Das Radio zum Aufstehen. Nach der Schule ein wenig fernsehen. Vielleicht noch kurz mit dem Game Boy zocken. Und vor dem Schlafengehen eine Hörspielkassette. Es ist gerade einmal eine Generation her, dass Reizquellen für Kinder - vor allem jene via Medien - überschaubar waren. Mittlerweile haben sich zum Genannten Smartphones, Tablets, Spielekonsolen, Tonieboxen und Smartwatches gesellt - und bieten den wohl größten Hort an Reizen, dem Kinder je ausgesetzt waren. Zum Weltkindertag am Samstag weisen Expertinnen und Experten auf diese Flut hin - und fordern einen bewussteren Umgang mit den Einflüssen.
"Ich merke es in der Arbeit sofort, wenn Kinder unlimitiert im Internet surfen oder spielen. Dann leiden die Konzentrationsfähigkeit und die Fantasie", konstatiert etwa Sigrun Eder, Psychotherapeutin und Klinische Psychologin am Uniklinikum Salzburg sowie Hauptautorin der SOWAS!-Kinderbuchreihe. Zumal man nicht vergessen dürfe, dass nebst den Einflüssen via Medien Weiteres auf ein Kind einprassle: Eder verweist unter anderem auf die "vielen Reize auf dem Weg in die Schule, zum Beispiel im überfüllten Bus oder Zug", den Pausenlärm oder die Geräuschkulisse in (geteilten) Kinderzimmern. "Deshalb gehen viele sogar öfter aufs Klo, als sie müssten, um dort endlich ein bisschen Ruhe zu finden."
Um mit der Reizflut adäquat umgehen zu können, brauche es zuvorderst einen gewissen Rahmen. Und für diesen hat Eder konkrete Empfehlungen: "Zwischen 6 und 12 Jahren sollte das Handy zur Freizeitgestaltung maximal eine Stunde pro Tag verwendet werden, zwischen 12 und 16 Jahren maximal zwei Stunden. Und nach 20 Uhr gehört das Handy keinesfalls in die Nähe eines Kindes unter 14 Jahren." Freilich habe sich die Bedeutung von Medien in den vergangenen Jahren geändert. "Aber wenn mir Kinder sagen, dass sie fünf bis acht Stunden am Handy verbringen, mache ich mir ernsthafte Sorgen." Entscheidend sei auch, wofür der Nachwuchs die Bildschirmzeit nutze. "Scrollt sich ein Kind ziellos stundenlang durch das Internet und verliert es dabei jegliches Zeit- und Hungergefühl? Oder sucht es konkret nach Malvorlagen, hört es Musik - das alles macht einen Unterschied." Jedenfalls habe "ein Volksschulkind nichts auf TikTok oder Instagram verloren", ergänzt Eder.
Entsprechend sollten sich Eltern überlegen, "wie sie ein Mindestmaß an Kontrolle über das Handy ihres Kindes behalten können". Dafür gebe es Steuerungs-Apps; Vergleichsplattformen empfehlen etwa die Bezahlanwendung Qustodio. "Das Internet ist für Kinder so gefährlich wie für Fußgänger eine sechsspurige Autobahn. Dessen sollten sich Erwachsene bewusst sein", sagt Sigrun Eder. Und sie verweist auch auf die Vorbildrolle: Eltern sollten etwa "bewusst handyfreie Zeiten vor Kindern praktizieren".
Aber kann es nicht sein, dass man solche Regeln aufstellt - und Kinder dennoch unter einer Reizflut leiden? Das könne freilich der Fall sein, sagt nicht nur Eder, sondern auch Isolde Österreicher. Die Ergotherapeutin widmet sich der Reizverarbeitung bei Kindern in ihrer Praxis im Bezirk Scheibbs (Niederösterreich) und, wie Sigrun Eder, in Buchform: Erst vor Kurzem hat sie eine einschlägige Trilogie abgeschlossen. Österreicher glaubt, dass nicht wenige im Umgang mit Reizen falsch ansetzen: Freilich sei es wichtig, die Fremdwahrnehmung von Kindern - alles, was sie sehen, hören, riechen, schmecken - zu beobachten. Noch wichtiger sei aber, die Eigenwahrnehmung im Blick zu haben. Zu dieser gehörten drei Basissinne: Gleichgewicht, Berührungssinn und Propriozeption, also die Fähigkeit, den Körper ohne visuelle Kontrolle adäquat zu spüren.
Es sei empfehlenswert, diese Sinne zuvorderst zu schulen - denn: "Wenn ich mich selbst spüre, kann ich auch mit anderen Reizen gut umgehen", sagt Österreicher. Das gelinge vor allem "im Garten, im Wald, in der Küche oder in der Werkstatt". Ebendort könne man die erwähnten Sinne "in vielfältiger Weise" prägen - am besten spielerisch und Schritt für Schritt: "Zuerst kann ein Kind große Perlen auffädeln, dann kleine - und irgendwann vielleicht Schmelzperlen." Auch Sportarten wie Schwimmen, Klettern oder Reiten seien für Kinder gut geeignet, um das Gleichgewicht zu schulen oder "sich zu spüren". Gelinge das, habe das auch für das akademische Lernvermögen positive Folgen. "Die Basissinne sind tatsächlich die Basis - auch, um zum Beispiel Buchstaben lernen zu können", sagt Österreicher.
Digitale Medien hingegen bräuchten zumindest kleine Kinder "an sich gar nicht", ergänzt die Ergotherapeutin. Zumal alles, was mit Medien zu tun habe, "sehr schnell nachgelernt" sei. Isolde Österreicher wolle Medien aber auch nicht pauschal verteufeln. Mit Maß - und vor allem, wenn der Konsum mit den Eltern erlebt werde - seien sie "akzeptable Freizeittools".
Ob Kinder von Reizen überfordert sind, könne man indes etwa in der Reaktion erkennen, sobald das jeweilige Zeitlimit ablaufe, ergänzt Psychologin Sigrun Eder. "Reagieren die Kinder stark verärgert, wütend oder heftig schimpfend? Und führen sie ein echtes Leben abseits der Online-Games?"
Komme es zu einer situativen Überforderung, empfehlen sowohl Eder als auch Österreicher a priori nicht, was man vermuten könnte - Ruhe -, sondern: Auspowern. "Oft haben die Kinder so viel Adrenalin angestaut, dass das nur durch Bewegung abgebaut werden kann", beschreibt Österreicher. Eder ergänzt noch die Tipps, "Freunde mit Tieren zum Streicheln zu finden" oder bei Stress sich von diesem mit körperlichen Übungen abzulenken, ihn etwa auszuschütteln.
Stichwort Tipps: Solche hat Sigrun Eder auch parat, geht es darum, der Überforderung vorzubeugen. Die Psychologin rät etwa zu einem ordentlichen Kinderzimmer, zu einem Rückzugsbereich in ebendiesem, zu mindestens einer Stunde bildschirmfreier Zeit vor dem Schlafengehen - oder zu simplen Atemübungen: "Mehrmals bewusst tief ein- und ausatmen und die Gedanken auf schöne Dinge wie einen Sandstrand fokussieren." Dazu solle man bereits kleineren Kindern die Gelegenheit geben, auch einmal allein zu spielen - und ihnen vor allem eine Frage näherbringen: Was brauchst du, damit es dir besser geht? "So lernen Kinder, ein Gefühl mit einem Bedürfnis zu verknüpfen - und dieses Bedürfnis konkret zu benennen", schließt Eder.
Lesetipps:Die SOWAS!-Reihe von Sigrun Eder mit Büchern wie "Was fühlst du?", "Dein innerer Schatz" oder "Was brauchst du?" wird von Edition Riedenburg verlegt.








