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Die Gefahren von Social Media und Rollenklischees: "Es könnte uns alle treffen"

Social Media als potenziell gefährliche Spielwiese für Jugendliche: Die Serie "Adolescence" beleuchtet das Thema. Was wir daraus lernen können.

Das Internet im Allgemeinen und Social Media im Speziellen könne uns „ent- und belasten“, sagt ...
Das Internet im Allgemeinen und Social Media im Speziellen könne uns „ent- und belasten“, sagt ...
... die Kinder- und Jugendpsychologin sowie Buchautorin Lisa Pongratz.
... die Kinder- und Jugendpsychologin sowie Buchautorin Lisa Pongratz.

Kulturkritiker und -kritikerinnen überschlagen sich mit Lob für die Netflix-Serie "Adolescence". Darin ermordet ein 13-Jähriger eine Mitschülerin. Während die Ermittler nach Schema F vorgehen, zeigt sich im Hintergrund ein gefährliches Geflecht verschiedener Einflüsse, darunter die toxischen Auswirkungen von Social Media. Ein Gespräch mit der Kinder- und Jugendpsychologin sowie Buchautorin Lisa Pongratz zum richtigen Umgang mit sozialen Medien.

Eine Szene in "Adolescence" ist bezeichnend: Der Ermittler sucht nur nach der Mordwaffe und wird erst von seinem Sohn über die Sprache der Emojis aufgeklärt, die zu der Tat einen wesentlichen Beitrag geleistet haben. Wie haben Sie diese Szene empfunden? Lisa Pongratz: Die Szene zeigt sehr gut, wie weit wir Eltern von der Lebensrealität unserer Kinder entfernt sein können. Die Diskrepanz der elterlichen und jugendlichen Wahrnehmung war immer schon groß. Durch die massiven technischen Fortschritte des vergangenen Jahrzehnts ist dieser Graben aber noch tiefer geworden. Wegen der Doppelbelastung von Familie und Arbeit fehlt es vielen Eltern auch an Zeit und Muße, sich in die Welt der Jugend zu begeben und über ihren eigenen "Facebook-Tellerrand" hinwegzusehen. Dabei wäre eine Beschäftigung auf Augenhöhe der erste Schritt zum gegenseitigen Verständnis - egal ob beim gemeinsamen Zocken oder dem Konsum von Schminkvideos auf TikTok. Wir wollen wissen, wo und mit wem sich unsere Kinder herumtreiben. Warum nehmen wir den virtuellen Raum davon aus?

Nach einer jüngsten Studie sehen zehn Prozent der Jugendlichen ihr Nutzungsverhalten bei Gaming und Social Media als problematisch. Suchtverhalten geht ja oft mit Depressionen einher. Was sind Ihre Beobachtungen? Ich beobachte einen starken Zusammenhang zwischen hoher Bildschirmzeit und psychischen Problemen: Das eine kann das andere bedingen, es ist eine Henne-Ei-Frage. Viele introvertierte Jugendliche ziehen sich in den virtuellen Raum zurück und leben dort ihren Frust aus. Sie finden aber auch Freunde oder Gleichgesinnte. Andere wiederum sind täglich auf Social Media mit Idealen konfrontiert, denen sie nicht gerecht werden können. Das Internet kann ent- und belasten. So findet man immer einen Grund, Angst zu haben. Es lassen sich aber auch Trost, Mitgefühl und Gemeinschaftsgefühl finden. Ich will nichts verteufeln. Alles hat zwei Seiten.

Wo müssten Eltern, Lehrer, Regierungen besser hinschauen? Und was bringen Verbote? Verbote haben noch nie funktioniert und wirken meiner Meinung nach fast ausschließlich kontraproduktiv bei Jugendlichen. Es sollte in Schulen und vermutlich schon lange davor in der frühen Bildung auf Medienkompetenz gesetzt werden. Peer-Konflikte und Mobbingsituationen sind sicher keine Folgeerscheinung von Social-Media-Nutzung - wir vergessen, dass es sie immer gegeben hat. Die Hemmschwelle ist in dieser indirekten Konfrontation aber niedriger. In Wirklichkeit wäre der einzige richtige Schutzfaktor, Kinder früh in ihrer Medienkompetenz zu stärken, und vor allem: eine vertrauensvolle Beziehung zu ihnen zu pflegen. Solange mein Kind mit mir sprechen will, kann ich einwirken. Wie finden wir die Balance zwischen Begleitung und Vertrauen? Es ist wohl eine der Löwenaufgaben des Elternseins.

Auch Rollenklischees waren Thema in der Serie. Welche Auswirkungen haben diese? Die Serie zeigt sehr gut auf, welche Rollenbilder in unserer Gesellschaft und auch zu einem großen Teil in den jungen Generationen vorherrschen. Die Dialoge und Interaktionen der Akteure machen einem schmerzhaft bewusst: Es könnte uns alle treffen. Nehmen wir das LGBTQ-Thema, das man auch als Freiheit sehen könnte, sich selbst eine Geschlechtsidentität erwählen oder gleichgeschlechtlich leben zu können. Unser patriarchales Gedankensystem hat davor aber Angst, Machismus und das Einzementieren der Rollenklischees sind die Folgen. Das Patriarchat schadet uns allen: Der junge Mörder in "Adolescence" wollte zeichnen. Wieso musste er boxen und Fußball spielen? Um echte Veränderung zu erreichen, müssen wir alle lernen, uns selbst besser zu reflektieren, uns veraltete Glaubenssätze bewusst machen und versuchen, diese aufzulösen. Vergessen wir nicht auf die jungen Männer. Und vergessen wir nicht auf die jungen Frauen. Sie sind unsere Zukunft. Lassen wir sie sein, wer sie sein wollen.