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Schlafstörungen in Österreich: Die Risiken von Melatonin-Gummibärchen

Etwa 30 Prozent aller Österreicher leiden unter Schlafstörungen. Wie die Einnahme eines Hormons helfen kann - und doch bedenklich ist.

Lang anhaltende Schlafstörungen sind belastend und sollten mit Hausärztin oder -arzt abgeklärt werden.
Lang anhaltende Schlafstörungen sind belastend und sollten mit Hausärztin oder -arzt abgeklärt werden.
Expertinnen und Experten empfehlen bei Schlafproblemen unter anderem ausreichend Bewegung an der frischen Luft.
Expertinnen und Experten empfehlen bei Schlafproblemen unter anderem ausreichend Bewegung an der frischen Luft.

Eigentlich ist es kein neues Thema. Bereits seit den 1990er-Jahren wird das Hormon Melatonin, auch gerne als Nacht- und Schlafhormon bezeichnet, auf seine Wirkung auf die menschliche Psyche und das Schlafverhalten untersucht. Seit einigen Jahren jedoch ist ein neuer Trend um den Botenstoff entstanden. Verpackt in Tabletten, Dragees, Sprays und Gummibärchen lässt er sich einnehmen, um, so verspricht es zumindest die Werbung, besser ein- und durchschlafen zu können. Ein Trend, den die Psychotherapeutin Brigitte Holzinger, die an der Medizinischen Universität Wien zum Thema Schlafverhalten forscht und lehrt, sehr bedenklich findet. "Melatonin einzunehmen, ohne das ärztlich abklären zu lassen, ist eine äußerst schlechte Idee", betont die Expertin, "es klingt harmlos und sieht in Form von Gummibärchen und Sprays auch harmlos aus, bewirkt jedoch eine Kaskade an hormonellen Veränderungen, die nicht mitbedacht werden."

Zwei Gegenspieler: Melatonin und Serotonin

Melatonin als Schlafhormon zu bezeichnen sei eigentlich falsch, erklärt Holzinger weiter. Vielmehr handle es sich dabei um ein Dunkelhormon, das den Schlaf insofern fördere, als es dem Körper vermittle, dass es Nacht und damit Zeit für Regeneration sei. Die Botenstoffe Melatonin und Serotonin sind im menschlichen Körper eng miteinander verbunden und beeinflussen nicht nur den Schlaf-wach-Rhythmus, sondern auch das allgemeine Wohlbefinden. Während Melatonin vermehrt bei Dunkelheit ausgeschüttet wird, erhöht sich der Serotoningehalt im Blut bei Tageslicht. Damit sind die beiden Hormone Antagonisten in einem komplexen System - Melatonin macht, stark vereinfacht gesprochen, müde, Serotonin wiederum munter.

Beide Botenstoffe stehen dabei im ständigen wechselseitigen Einfluss. Eine ausgewogene Bildung von Serotonin ist entscheidend für die ausgewogene Bildung von Melatonin und vice versa. Entsteht ein Ungleichgewicht, kann das zu mannigfaltigen Problemen führen, darunter Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen und Depressionen.

Melatonin als Gummibärchen: "Verantwortungsloser Hype"

Mit der Einnahme von Melatonin greift eine Person in dieses komplexe Wechselspiel ein. "Was viele nicht auf dem Schirm haben, weil das Thema aktuell von der Industrie verantwortungslos gefördert wird, ohne auf die Risiken einzugehen: Auch die Geschlechts- und Verdauungshormone werden dabei mitbeeinflusst", warnt Holzinger.

"Wir wissen noch viel zu wenig über Melatonin"
Brigitte Holzinger
Psychotherapeutin

Insbesondere der Trend, dass immer mehr Eltern ihren Kindern vor dem Schlafen Melatonin-Gummibärchen geben, ohne das mit einer Ärztin oder einem Arzt abgesprochen zu haben, sei ein sehr gefährlicher. "Gerade bei Kindern zeigen selbst geringe Dosen natürlich deutlich stärkere Effekte als bei Erwachsenen. Die Beeinflussung der Geschlechtshormone durch eine Langzeitgabe von Melatonin kann unter anderem bewirken, dass Buben Brüste bekommen oder dass Mädchen und Buben früher in die Pubertät kommen."

Risiken und Nebenwirkungen: Benommenheit, Albträume u. a.

Bei Kindern wie auch bei Erwachsenen sind die potenziellen kurzfristigen Nebenwirkungen einer Melatonineinnahme unter anderem Appetitlosigkeit, Benommenheit, Unwohlsein und Kopfschmerzen. Bei einer längeren Einnahme, so zeigten Studien, können Albträume sowie eine verstärkte Nervosität und Reizbarkeit auftreten. Medizinerinnen und Mediziner befürchten bei einer langfristigen Einnahme zudem eine mögliche Schädigung der Leber und der Nieren.

Ob Melatonin abhängig machen könne, man also irgendwann gar nicht mehr ohne Tablette, Gummibärchen oder ein bis mehrere Hübe aus der Spraydose gut durchschlafen könne, sei wissenschaftlich nicht geklärt, sagt Holzinger, "die Forschung steckt hier noch in den Kinderschuhen. Auch über die Nebenwirkungen müssen wir noch viel mehr herausfinden. Umso bedenklicher ist es, dass Melatonin von zahlreichen Herstellern so angepriesen wird."

Medikament mit Potenzial: Forschung erst am Beginn

So kritisch Holzinger den häufig allzu sorglosen Umgang mit der Einnahme von Melatonin betrachtet, so wertvoll erachtet sie die Forschung rund um das Hormon. "Dass wir noch nicht viel über die Gabe von künstlichem Melatonin wissen, birgt natürlich ein enormes Potenzial in sich. Die Hoffnung ist groß, dass es im Einsatz gegen unterschiedliche gesundheitliche Probleme und Krankheiten helfen könnte." Bei Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen gebe es beispielsweise bereits großartige Resultate, "ob es sich allerdings tatsächlich um eine solche Störung handelt, muss der Kinderarzt oder die Kinderärztin beurteilen". Auch werde Melatonin zugeschrieben, dass es als Fänger von freien Radikalen und als Blutdrucksenker wirke. Zudem könne es sehr wohl bei Schlafproblemen eingesetzt werden, "allerdings eben nur dann, wenn die Ärztin oder der Arzt das empfiehlt".

Um ein ausgewogenes Verhältnis von Melatonin und Seratonin zu fördern, empfiehlt Holzinger eine Lebensweise mit ausreichend Tageslicht, Bewegung an der frischen Luft, einer ausgewogenen Ernährung und einem regelmäßigen Schlafrhythmus. "Am besten ist Bewegung gleich in der Früh, eine Runde zu laufen oder zu spazieren." So lasse sich sowohl der Schlaf als auch das Wohlbefinden verbessern, ohne auf künstliche Hormone zurückgreifen zu müssen. Im Fall von mittel- bis langfristig anhaltenden Schlafstörungen sollte hingegen unbedingt der Hausarzt konsultiert werden.